Krankhafte Vigilanz: Tyler, The Creators “NOID”. Wie Wachsamkeit in Paranoia umschlägt

Wenn die eigene Berühmtheit als Gefahr wahrgenommen wird und Wachsamkeit zu Paranoia wird. Sowohl der Text als auch das dazugehörige Musikvideo des Liedes „NOID“ des US-amerikanischen Rappers Tyler, The Creator vermitteln dieses Umschlagen eindrucksvoll: Das lyrische Ich hat eine derartige Bekanntheit erlangt, dass es sich sowohl in der Öffentlichkeit als auch im Privaten nicht mehr sicher fühlt. Die wahrgenommene Bedrohung – eingangs in Form der Fans, mit zunehmenden Verlauf der Paranoia schließlich durch die gesamte Außenwelt empfunden – steigert sich immer weiter, sodass die bisherige Wachsamkeit gegenüber der Umwelt in Paranoia umschlägt (s. Abb. 1).
Ein Beispiel für die Gefahr, die das lyrische Ich aufgrund seiner Bekanntheit von der Öffentlichkeit wahrnimmt, wird in dem von dem Rapper selbst inszenierten Musikvideo eindrucksvoll durch eine Fan-Interaktion veranschaulicht: Die Kamera nimmt die Perspektive des Sängers ein, eine Frau nähert sich diesem mit einem von Ekstase in Wahnsinn übergehenden Ausdruck von Aufregung ob des Aufeinandertreffens im Gesicht (s. Abb. 2).


In den Schlag auf Schlag folgenden Sequenzen ihrer Interaktion mit der Kamera wird das Handy in ihrer Hand analog zu ihrem Erregungszustand mehrmals zu einer Pistole (s. Abb. 3).
“Living between cameras and recorders”. Das Handy als Pistole, ein Bild wird „geschossen“, der „Star“ weiß nicht, ob die manisch wirkende Besitzerin der Handy-Pistole ihm wohl gesinnt ist. Damit wird eine Unsicherheit evoziert, welche die direkte Konfrontation, wie im Falle der Fan-Interaktion, übersteigt, und, so im Musikvideo vielfach exemplifiziert, übersteigerten, permanenten Wachsamkeit führt, die dann auch in Paranoia umschlägt und sich auf eingebildete Bedrohung richtet (s. Abb. 4).

“Someone’s keepin’ watch | I feel them on my shoulder”. Eine bedrohliche Fremdbeobachtung wird allgegenwärtig imaginiert. Das lyrische Ich ist so bekannt, dass er nirgends mehr als Privatperson agieren kann, was auch bedeutet, dass es für ihn keine geschützten Orte mehr gibt. Selbst in den eigenen vier Wänden fühlt er sich nicht sicher (s. Abb. 5).

“I can’t even buy a home in private | Home invasions got my brothers dying | Notice every car that’s drivin’ by […] Triple checkin’ if I locked the door”. Im Musikvideo trägt der Rapper konstant eine Maske, er verkörpert diese Persona über das gesamte Album. Die einzige Ausnahme bildet ein kleiner Ausschnitt, in dem er direkt mit der Kamera spricht. Dabei verhandelt der Sänger auch seine Herkunft und Hautfarbe – im Lied nicht zuletzt durch das in Chichewa gesungene Sample markiert –, die für die von ihm empfundene Bedrohung durch die Außenwelt eine große Rolle spielen. Im Musikvideo wird dies durch die Szene einer Autofahrt veranschaulicht, während welcher sich der Sänger im Rückspiegel seines Sportwagens durch ein Auto aus den 40er Jahren verfolgt wähnt (s. Abb. 6). Die dazwischen gezeigte Außenperspektive ordnet dies ein, indem dem Zuschauer gezeigt wird, dass dieses Auto lediglich in der Perspektive des Sängers existiert, es ist reine Imagination (s. Abb. 7).


Die verschiedenen Szenen im Musikvideo verdeutlichen, dass das lyrische Ich nicht mit konkreten, realen Bedrohungen konfrontiert ist, sondern diese imaginiert und sich damit in einem konstanten Zustand zielloser Wachsamkeit befindet, die seiner Paranoia entspringt. Die Paranoia drückt sich genau in dieser Offenheit aus: Die Wachsamkeit hat kein konkretes Ziel, wie im Mantra-artig wiederholten Aufruf zum regelmäßigen Schulterblick deutlich wird: “Left shoulder, right shoulder, left shoulder, look | Left shoulder, right shoulder, left shoulder, look | Left shoulder, right shoulder, left shoulder, look”. Der Sänger sehnt sich nach Ruhe, danach, allein zu sein, doch seine wahnhafte Wachsamkeit lässt das nicht zu. Das Lied endet in der Selbstdiagnose: “Leave me alone, what you want? | Leave me alone, what you want? | (Who’s at my window? My window) | Leave me alone (who’s at my window?) | Fuck, damn (who’s at my window?) | Paranoid”.
Wenn die eigene Berühmtheit als Gefahr wahrgenommen wird und Wachsamkeit zu Paranoia wird. Sowohl der Text als auch das dazugehörige Musikvideo des Liedes „NOID“ des US-amerikanischen Rappers Tyler, The Creator vermitteln dieses Umschlagen eindrucksvoll…
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David Brißlinger (21. Januar 2025). Krankhafte Vigilanz: Tyler, The Creators “NOID”. Wie Wachsamkeit in Paranoia umschlägt. Vigilanzkulturen. Abgerufen am 7. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/13415