Tagungsbericht: „Streichen, Rath und Tadel“ – Wachsames Lesen im Cotta-Verlag 1819–1848
9. und 10. September 2024, Deutsches Literaturarchiv Marbach
Am 9. und 10. September 2024 fand im Deutschen Literaturarchiv (DLA) Marbach der Workshop „Streichen, Rath und Tadel. Wachsames Lesen im Cotta-Verlag 1819–1848“ statt. Der Workshop, organisiert von Carlos Spoerhase, Erika Thomalla, Tilman Venzl, Kristina Mateescu und Charlotte Krick, konzentrierte sich auf die verschiedenen Akteur:innen, die vigilante Rezeptionspraktiken in der Verlagsarbeit der J.G. Cotta’sche Buchhandlung in kollaborativen Settings beteiligten. Im Zentrum stand überdies die Frage, welche Effekte eine von Wachsamkeit geprägte Verlagsarbeit auf die Druckerzeugnisse hatte, insbesondere das wachsame Lesen unter den Bedingungen der Zensur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Veranstaltung ist Teil des SFB-Teilprojekts „Wachsames Lesen: Hermeneutische Hellhörigkeit in der literarischen Vigilanzkultur des 19. Jahrhunderts“ der LMU München und bot eine fundierte und quellennahe Auseinandersetzung mit den Herausforderungen und Strategien literarischer Vermittlung und Zensur im Vormärz. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Cotta-Verlag eine zentrale literarische Institution im deutschsprachigen Raum. Besonders nach den Karlsbader Beschlüssen von 1819, die strenge Zensurmaßnahmen einführten, befand sich der Verlag in einer heiklen Position, zwischen den Interessen seiner Autor:innen, der Leserschaft und den staatlichen Zensurbehörden vermitteln zu müssen, ohne dabei die eigenen kommerziellen Interessen aus dem Blick zu verlieren. Der Workshop zielte darauf ab, die dynamischen Interaktionen zwischen Verleger:innen, Redakteur:innen, Autor:innen, Zensor:innen und Leser:innen durch Vorträge und Diskussionen auf Basis des DLA-Archivmaterials zu beleuchten.

Bild 1: Dr. Kristina Mateescu (links), Prof. Dr. Erika Thomalla (rechts)
Kristina Mateescu eröffnete den Workshop mit einer Einführung in das Konzept des „wachsamen Lesens“. Sie beschrieb dieses als ein durch repressive Literaturbedingungen geprägtes Rezeptionsverhalten, bei dem Lesende gezielt nach latenten, potenziell systemkritischen Textbedeutungen suchen. Als Beispiel diente ein Streitfall zwischen Friedrich Cotta, seiner Redakteurin Therese Huber und dem Schriftsteller Ludwig Börne. Mateescu zeigte, wie vigilante Deutungsprozesse den publizierten Text und seine Präsentation beeinflussten. Redaktionelle Eingriffe in Börnes Manuskripte stellte sie als Effekte eines von staatlicher Überwachung geprägten Wechselspiels dar. Ausgehend von diesem Fall leitete Mateescu zu den zentralen Fragen des Workshops über: Wer waren die Akteur:innen und Gruppen, die durch Formen des wachsamen Lesens den Publikations- und Distributionsprozess prägten? Und wie beeinflusste die verstärkte Aufmerksamkeit für latente Textbedeutungen die Verlagsarbeit, insbesondere die ästhetische Gestaltung und materielle Form von Büchern, Zeitschriften und Zeitungen?
Julia Kitzmann (Berlin) beleuchtete Heinrich Heines Beiträge für das Morgenblatt für gebildete Stände und dessen Balanceakt zwischen Haus- und Staatszensur. Sie hob hervor, wie Heine die Poetik des Journals nutzte, um Kritik indirekt zu formulieren. Ironische Wendungen, Mehrdeutigkeiten und subversive Anspielungen ermöglichten es ihm, trotz rigider Zensur kritische Inhalte subtil einzubringen. Die Gestaltung der Textsegmente, die Sequenzierung der Themen und die Tonalität seiner Schriften passten sich dabei den ästhetischen Anforderungen des Morgenblatts an. Die Diskussion im Anschluss beleuchtete, wie diese Praxis Heines künstlerische Freiheit sowohl einschränkte als auch seine literarische Stimme formte.

Bild 2: Prof. Dr. Bodo Plachta
Bodo Plachta (Münster) analysierte den Briefwechsel zwischen Heinrich Heine und dem Redakteur Gustav Kolb und zeigte, wie Kolb nicht nur als Redakteur, sondern auch als Co-Autor fungierte. Gemeinsam arbeiteten sie daran, Heines Texte – etwa über Engländer, Fabrikarbeiter und Chartisten – zensurgerecht zu gestalten. Plachta stellte die Frage, ob solche redaktionellen Eingriffe die Authentizität literarischer Werke beeinträchtigen oder als kreative Weiterentwicklung zu werten sind. Anhand verschiedener Versionen eines Artikels aus der Allgemeinen Zeitung zeigte Plachta, wie Heine durch das Konzept des „Andeutens statt Ausmalens“ politisch brisante Passagen entschärfte. Kolb, ein bekannter Englandfreund, passte den Text zusätzlich an, um ihn leserfreundlicher und allgemeiner zu gestalten. In der Buchausgabe hingegen kehrte Heine zu schärferen Tönen zurück, wodurch die Zeitungsfassung als bewusst moderierte Strategie zur Umgehung der Zensur erkennbar wird.
Im Anschluss an die Führung widmete Moritz Strohschneider (München) seinen Vortrag Hermann Hauff, dem langjährigen Redakteur des Morgenblatts. Er charakterisierte Hauff als einen Vorreiter der Professionalisierung im Redaktionsgeschäft, der als Kulturmanager eine zentrale Rolle spielte. Hauffs Aufgaben reichten von der Verwaltung der Korrespondenz, der Akquise und Pflege von Autor:innenbeziehungen, über die Verlagswerbung bis hin zu delegierten Redaktionstätigkeiten. Besonders hob Strohschneider Hauffs Bemühungen hervor, die Autor:innen auf die programmatischen Richtlinien des Journals zu verpflichten, wobei er den Publikumsgeschmack und sittliche Normen gleichermaßen berücksichtigte. Hauff bearbeitete Texte präventiv, um sie zensurgerecht zu gestalten, ohne dabei deren literarische und kritische Substanz zu verlieren. Diese Arbeit erforderte eine hohe literarische Sensibilität, um die Erwartungen von Zensoren, Autor:innen und Leser:innen in Einklang zu bringen.
Kristina Mateescu und Charlotte Krick (München) beleuchteten die Arbeit von Karl Joseph Stegmann, dem langjährigen Hauptredakteur der Augsburger Allgemeinen Zeitung (AZ), der über Jahrzehnte hinweg flexible Strategien entwickelte, um wechselnde Zensurvorgaben zu bewältigen. Als „sich selbst trefflich zensurierender Redakteur“ setzte Stegmann vorbeugende Selbstzensur ein, indem er provokative Begriffe entfernte und Aussagen entschärfte, um den Zensurvorgaben zu genügen, ohne den aufklärerischen Anspruch des AZ-Programms aufzugeben. Besonders hervorgehoben wurde Stegmanns Nutzung der miszellanen Blattordnung der AZ, durch die er Leser:innen ermutigte, zwischen den Spalten liberale Tendenzen herauszulesen. Diese subtile Strategie, von Zensurbehörden als „neutralité perfide“ toleriert, erfüllte die inhaltlichen Vorgaben, ließ aber Raum für kritische Meinungsbildung. Mateescu und Krick zeigten anhand von Zensurakten aus dem Bayerischen Staatsarchiv, wie Stegmann handschriftliche Anmerkungen und Interpretationshinweise an Manuskripte setzte, um die Urteile der Zensoren zu beeinflussen. Diese Praxis verdeutlicht die enge Verflechtung redaktioneller Arbeit mit den Rezeptionsstrategien der Zensurbehörden, die aus kollaborativen Prozessen mit verschiedenen Akteur:innen resultierte.

Bild 3: Dr. Johannes Czakai (links), Dr. Kathrin Wittler (rechts)
Kathrin Wittler (Berlin) und Johannes Czakai (Jerusalem) beleuchteten die vielschichtige Rolle von Joel Jacoby, einem Schriftsteller und Informanten des preußischen Geheimdienstes im Vormärz. Sie zeigten, wie Jacoby ab den 1830er Jahren als Korrespondent für die Allgemeine Zeitung und das preußische Innenministerium tätig war. Dabei sammelte er nicht nur Berichte, sondern engagierte sich auch als wachsamer Leser, der durch Dechiffrierungsbemühungen die Anonymitäten hinter chiffrierten Korrespondenzen aufzudecken suchte. Gleichzeitig trug er zur Verschleierung der Identitäten von Autoren bei – ein paradoxes Vorgehen, das sowohl Schutz bot als auch Verdächtigungen und Gerüchte beförderte. Die ständige Wachsamkeit in Jacobys Arbeit, die mit hohem psychischen Druck und einer verschärften Konkurrenz unter Informanten einherging, destabilisierte nicht nur ihn selbst, sondern auch das gesamte Spitzelsystem. Wittler und Czakai zeigten zudem die Verknüpfung von Zensur, Spionage und öffentlicher Meinung auf. Sie diskutierten, wie Informanten wie Jacoby durch ihre Berichterstattung die Meinungsbildung beeinflussten und fragten, ab wann wachsames Lesen in Paranoia umschlagen kann – insbesondere in einem Umfeld von Misstrauen und Konkurrenz unter Spitzeln.

Bild 4: Dr. Tilman Venzel
Tilman Venzl (München) fokussierte sich auf die Prüfungs- und Gutachtertätigkeit des preußischen Zensors Ernst Karl Christian John, der in den Debitverfahren über die Zulassung bereits gedruckter Bücher für den Verkauf in Preußen entschied. Venzl zeichnete John nicht als bloßen Erfüllungsgehilfen des repressiven Staatsapparats, sondern als ästhetisch geschulten und aufklärerisch denkenden Leser. John bewertete nicht einzelne subversive Passagen isoliert, sondern analysierte die Gesamttendenz eines Werkes, wobei er ästhetische und politische Kriterien gleichermaßen berücksichtigte. Sein Ziel war es, durch abwägende Entscheidungen öffentliche Ruhe zu bewahren und eine Balance zwischen literarischer Qualität und politischer Provokation herzustellen. Besonders Werke hoher literarischer Qualität betrachtete John als potenziell gefährlich, wenn sie rebellische oder pessimistische Stimmungen hervorriefen, die gesellschaftliche Unzufriedenheit fördern konnten. Obwohl Autoren des Vormärz wie Varnhagen von Ense ihn persönlich kritisierten, betonte Venzl, dass es weniger Johns Person als vielmehr das Amt des Zensors war, das Provokation auslöste. Anhand der Gutachten zeigte Venzl, dass Zensoren wie John durch differenzierte Interpretationen und pragmatische Urteile zur Deeskalation beitrugen, anstatt jede subversive Bemerkung automatisch zu sanktionieren.

Bild 5: Prof. Dr. Carlos Spoerhase
Carlos Spoerhase (München) schloss den Workshop mit einem Vortrag über die Rezeption von Cervantes’ Don Quijote um 1830 ab, der ursprünglich gemeinsam mit Pauline Solvi geplant war, die jedoch krankheitsbedingt ausfiel. Spoerhase fokussierte sich auf zwei Beispiele: die Berliner Zeitschrift Don Quixote und eine Prachtausgabe des Werks, die Heinrich Heine 1837 mit einem abtrennbaren Vorwort versehen hatte. Er verdeutlichte, wie sowohl das literarische Artefakt selbst als auch seine peri- und epitextuellen „Textumwelten“ eine Rolle in den vigilanten Lektüre- und Bewertungsprozessen der Zeit spielten. Am Beispiel der Zeitschrift rekonstruierte Spoerhase den hermeneutischen Eifer eines Zensors, der Texte und Sinnbezüge akribisch untersuchte. Das zweite Beispiel, die Prachtausgabe, illustrierte die Bedeutung peri- und epitextueller Elemente wie Werbeanzeigen, die von den Zensoren in ihre Bewertung einbezogen wurden. Spoerhase plädierte dafür, historische Lektürepraktiken nicht isoliert auf Einzeltexte zu beschränken, sondern stets auch peri- und epitextuelle Umwelten in die Analyse einzubeziehen. Diese Ansätze unterstreichen die Bedeutung des Cotta-Archivs als Schlüsselressource, um historische Lektürepraktiken und deren gesellschaftliche Wirkung umfassend zu rekonstruieren.
Sean Franzel (Missouri) analysierte Jean Pauls „Vorschmäcke“ – Vorabdrucke, die nicht nur zur Leser:innenbindung dienten, sondern auch eine subversive Methode waren, um politisch brisante Inhalte zu verschleiern. Diese Vorschauen enthielten oft Andeutungen, die sich erst in den späteren Veröffentlichungen in ihrer vollen Bedeutung offenbarten. Franzel zeigte, dass Jean Paul die Leserschaft durch „erweiterte Witze“ aktiv einband und dazu anregte, selbst nach verborgenen Bedeutungen zu suchen. Diese Methode war nicht nur verkaufsfördernd, sondern ermöglichte es Jean Paul, politische und moralische Botschaften zu vermitteln, ohne sofort die Aufmerksamkeit der Zensoren zu erregen.
Der Workshop „Streichen, Rath und Tadel“ bot einen tiefen und materialgesättigten Einblick in die Herausforderungen der Verlagsarbeit unter den Bedingungen der Zensur und machte auf die verschiedenen Akteur:innen aufmerksam, die sich ‚hinter den Kulissen‘ in diversen kollaborativen Konstellationen mit wachsamen Lektürepraktiken an der Produktion von Druckerzeugnissen beteiligten und damit erheblichen Einfluss auf die Lese- und Geschmackskultur der Zeit nahmen. Wie im Laufe des Workshops deutlich wurde, steht man hier erst am Anfang einer großen Aufgabe, die nur durch intensive und kontextsensible Archivarbeit zu bewältigen ist. Das Verlagsarchiv der J.G. Cotta’schen Buchhandlung bietet für derlei Forschungsinteressen reichhaltiges und weitgehend unerschöpftes Material.
Mehr zur Autorin: Charlotte Krick
Am 9. und 10. September 2024 fand im Deutschen Literaturarchiv (DLA) Marbach der Workshop „Streichen, Rath und Tadel. Wachsames Lesen im Cotta-Verlag 1819–1848“ statt. Der Workshop konzentrierte sich auf die verschiedenen Akteur:innen, die vigilante Rezeptionspraktiken in der Verlagsarbeit der J.G. Cotta’sche Buchhandlung in kollaborativen Settings beteiligten. Im Zentrum stand überdies die Frage, welche Effekte eine…
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Charlotte Krick (14. Januar 2025). Tagungsbericht: „Streichen, Rath und Tadel“ – Wachsames Lesen im Cotta-Verlag 1819–1848. Vigilanzkulturen. Abgerufen am 7. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/1332h