Digitale Vigilanz: Wie die CitizenApp Sicherheitsgefühl und Aufmerksamkeit verändert

Im Oktober 2024 brummt gegen neun Uhr morgens mein Handy und eine Push-Nachricht erscheint auf meinem Bildschirm (siehe Abb. 1). „The community needs you!“ verkündet die CitizenApp, denn die Polizei habe in meiner unmittelbaren Nachbarschaft einen Notruf erhalten, demzufolge auf dem El Cajon Boulevard in San Diego eine Person mit einem Schraubenzieher in der Hand renne und schreie. Ich sehe, dass der Vorfall sich nur 0,3 Meilen von meinem Zuhause zuträgt und lausche, ob ich die Sirenen der Polizei vernehmen kann. Als kurze Zeit später ein Helikopter über dem Viertel kreist, bin ich endgültig wach und alarmiert, obwohl ich eigentlich gerade erst meinen Morgenkaffee zubereitet habe. Besteht möglicherweise eine ernste Gefahrensituation?
Die von der Firma sp0n Inc. entwickelte CitizenApp, die bis 2017 unter dem Namen „Vigilante“ vermarktet wurde, verspricht mehr Sicherheit durch standortbasierte Echtzeitwarnungen. Sie ist in 60 US-Städten verfügbar und hat über 9 Millionen Nutzer*innen, die sich über Bedrohungslagen und Notfalleinsätze informieren.
Seitdem ich sie aus Interesse am Zusammenhang zwischen Vigilanz und Sicherheit installiert habe, um im autoethnographischen Zugang mehr über die App zu erfahren1, hat sie mich unablässig auf Vorkommnisse in meiner unmittelbaren Umgebung aufmerksam gemacht und so meine Wahrnehmung der Stadt sowie mein Bewusstsein für Gefahren verändert.
Sicherheit durch Echtzeitbeobachtung?
Für viele Menschen sind Apps – Anwendungsprogramme, die auf Smartphones, Tablets oder Computern genutzt werden – ein fester Bestandteil des Alltags geworden.2 Sie übernehmen wichtige Aufgaben und erleichtern etwa Kommunikation, Konsum und Unterhaltung oder verbessern das tägliche Leben,3 indem sie Mobilität vereinfachen,4 bei der Initiierung und Pflege von sozialen und romantischen Beziehungen behilflich sind5 oder das Streben nach physischer und psychischer Gesundheit unterstützen.6
Die CitizenApp hingegen zielt darauf ab, das Sicherheitsgefühl der Nutzer*innen zu stärken und greift dafür auf öffentliche Daten zu, indem die Notfallkommunikation von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten mittels Funkantennen überwacht und gewonnene Daten in die App gespeist werden. Gleichzeitig nutzt sie die Standortdaten der Nutzer*innen, um sie dazu anzuregen, live über Vorkommnisse zu berichten, diese zu fotografieren oder zu filmen und das Material wiederum anderen Nutzer*innen bereitzustellen. CitizenApp ist damit eine Anwendung, die beobachtet, zur Beobachtung anleitet und Beobachtung ermöglicht.
Die Funktionen der CitizenApp

Beim Start der App, ist auf der Benutzeroberfläche zunächst der eigene Standort markiert, von dem aus ein ‚Radar‘ den Umkreis von 1,5 Meilen scannt. Zudem wird die Anzahl weiterer Nutzer*innen in diesem Bereich angezeigt. Informationen über sogenannte ‚incidents‘ (Vorfälle) in dieser Umgebung werden für eine Dauer von 24 Stunden mit kleinen Symbolbildern dargestellt: Ein kleiner Polizist zeigt eine nicht näher definierte Polizeiaktivität an, zwei Verkehrskegel weisen auf Beeinträchtigungen im Verkehr hin, ein offenes Fenster steht für einen Einbruch, ein Messer steht für bewaffnete Überfälle, eine Pistole steht für den Gebrauch von Schusswaffen usw. (siehe Abb. 2).

Auch außerhalb des eigenen Suchradius zeigt die zoombare Karte die Vorfälle der letzten 24 Stunden. Beim Klicken auf die kleinen Symbole öffnet sich ein neues Fenster, in welchem nähere Informationen über den jeweiligen Vorfall gegeben sind. Diese bestehen einerseits aus einer Überschrift (z.B. ‚Report of Man Yelling in the Street‘), einem Titelfoto oder Video, welches von Nutzerinnen der App zur Verfügung gestellt wird, einer Timeline in welcher die Notrufe sowie Funksprüche und Maßnahmen der Einsatzkräfte chronologisch aufgelistet (und in der kostenpflichtigen Version auch anhörbar) sind, einer Emoticon-Reaktionsspalte und der Möglichkeit in einen Chat mit weiteren Nutzer*innen einzutreten. Hier tauschen die Beteiligten Informationen und Einschätzungen über den jeweiligen Vorfall aus.
Scrollt man etwas nach unten gelangt man zur Kategorie ‚in this area‘, in der weitere Vorfälle aus der Vergangenheit einsehbar sind aber auch ‚Crime Reports‘ aufgerufen werden können (siehe Abb. 3). In diesen wird die Entwicklung von Kriminalität in der betreffenden Nachbarschaft statistisch aufgearbeitet. So steht hier zum Beispiel: “There were 450 crimes reported during the past 3 months, a 9 % decrease during this period.” Zusätzlich zu diesen Informationen ist die entsprechende Gegend auch kategorisiert und farblich markiert von rot (high) über orange (mid) bis weiß (low).
Neben den ‚incidents‘ und ‚crime reports‘ zeigt die Karte auch registrierte Sexualstraftäter*innen. Name, Delikt und Wohnort sind sichtbar, während weitere Details wie Geschlecht, Ethnie, Geburtsdatum und Foto nur in der Bezahlversion verfügbar sind.
Wahrnehmungsänderung durch die Nutzung der CitizenApp
Schon nach wenigen Tagen der Nutzung, verändert sich meine Wahrnehmung von der Stadt San Diego, die ich bislang als äußerst sicher und entspannt erlebt habe. Dadurch, dass die App mich konstant auf Vorfälle aufmerksam macht, über die ich andernfalls nicht informiert worden wäre, schärft sich mein Bewusstsein für die sicherheitsrelevanten Vorkommnisse in meiner Umgebung. Zwar gibt es viele Benachrichtigungen über triviale Begebenheiten wie Behinderungen im Straßenverkehr, rücksichtlose Autofahrer oder Streits unter Nachbarn, doch auch bewaffnete Überfälle, Messerstechereien und Schusswaffengebrauch werden in der App abgebildet.
Ich bekomme über die Zeit ein Gespür dafür, dass es in bestimmten Gebieten eine Häufung von Vorfällen gibt und dass mein Wohnviertel El Cerrito stärker betroffen ist als etwa das Barrio Logan, welches mir im Vorfeld meines Aufenthaltes als regelrechtes Problemviertel mit Gang-Aktivität beschrieben wurde (siehe Abb. 4 und 5). Es findet also eine Neubewertung von potenziellen Gefahrenorten statt, die sich nicht auf eigenes Erleben und Erfahrungen stützt, sondern von der App unterfüttert wird. Schnell bemerke ich, wie ich in entsprechenden Gebieten nun auch aufmerksamer agiere und meine Umwelt besser im Blick behalte.



Während meiner Nutzungszeit erhalte ich immer wieder Push-Benachrichtigungen mit dem Appell: “The community needs you!”. Damit werde ich aufgerufen, Bildmaterial von nahegelegenen Vorfällen zu liefern und Angaben zu den Vorkommnissen im Chat zu teilen. Zwar wird in der App angegeben, dass dadurch die Arbeit von Einsatzkräften unterstützt werden könne, doch vor allem scheint mir die Aufforderung zum Voyeur und Chronisten zu werden, darauf abzuzielen, der Sensationslust und Neugierde andere Nutzer*innen Futter zu liefern (siehe Abb. 6). Ich folge diesem Appell nicht und nutze die App lediglich, um informiert zu werden.
Allerdings ist die Information sehr einseitig, da ich zwar über Vorfälle in Kenntnis gesetzt werde, aber keinerlei Entwarnungen erhalte, wenn sich eine Situation entspannt. Auch über die Ergebnisse von polizeilicher Arbeit, lässt sich in der App nichts erfahren. Damit versetzt die App mich zwar immer wieder in Aufregung und gelegentlich auch in Alarmbereitschaft – nicht zuletzt durch die unterschiedlichen, bedrohlichen Sounds, welche die Warnmeldungen begleiten – trägt letztlich jedoch nicht zu meinem Sicherheitsempfinden bei – im Gegenteil.
Gleichzeitig wird mein Bewusstsein nur für die Arten von Vorfällen geschärft, die in der CitizenApp abgebildet sind. Häusliche Gewalt oder sogenannte „white collar crime“, wie Steuerhinterziehung oder Korruption, werden hingegen nicht dargestellt. Durch diese Fokussierung auf sichtbares Verhalten im öffentlichen Raum, lenkt die App damit auch die Aufmerksamkeit auf Personen, die als Bedrohung im öffentlichen Raum wahrgenommen werden. In San Diego mit seinen exorbitanten Lebenshaltungskosten und Mietpreisen, sind dies vorwiegend Menschen, die gezwungen sind auf der Straße zu leben. Damit leistet die CitizenApp einen unrühmlichen Beitrag zur Stigmatisierung ohnehin ausgegrenzter Gruppen.
Fazit: Unruhe und Aufmerksamkeit statt Sicherheitsgefühl
Trotz des vermeintlichen Ziels der App, die Sicherheit der Gemeinschaft zu erhöhen, trägt sie in meiner Erfahrung nicht zum Empfinden von Sicherheit bei. Nach der Nutzung über einen Zeitraum von etwa drei Monaten kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass sie stattdessen die Entwicklung eines Gefühls von Unruhe und einen Zustand von konstanter Aufmerksamkeit begünstigt. Diese Aufmerksamkeit mag zwar in den Dienst von Sicherheit und nachbarschaftlicher Fürsorge gestellt werden, die App bietet aber vor allem Anreize für Sensationslust und Voyeurismus, dem auch ich mich nur schwer entziehen konnte. Sobald ich eine Polizeisirene vernahm, griff ich zum Smartphone, um zu sehen, ob weiterführende Informationen über den Einsatz bereitstehen. Schlimmer noch ist die App durch ihre einseitige Fokussierung auf bestimmte Formen von Vorfällen dazu geeignet, sozialer Stigmatisierung Vorschub zu leisten und Ängste zu verstärken. Dies erfolgt, weil durch die App bestimmte Stadtgebiete, aber auch bestimmte Personengruppen als gefährlich markiert werden, ohne dabei weitere Informationen über die Hintergründe bestimmter Meldungen zu liefern. So auch bei der eingangs erwähnten Meldung über eine Person mit einem Schraubenzieher, bei der ich mir bis heute unsicher bin, ob eine ernstzunehmende Gefahr bestand, oder lediglich ein lauter Handwerker einen Einsatz ausgelöst hat.
Cite this article as: Ingo Rohrer, Digitale Vigilanz: Wie die CitizenApp Sicherheitsgefühl und Aufmerksamkeit verändert, in Vigilanzkulturen, 08.05.2025, Digitale Vigilanz: Wie die CitizenApp Sicherheitsgefühl und Aufmerksamkeit verändert – Vigilanzkulturen.
Mehr zum Autor PD Dr. Ingo Rohrer
- Amelang, Katrin: Wie Apps erforschen? Zum Zusammentreffen neuer Forschungsgegenstände und alter Methoden. In: Hamburger Journal für Kulturanthropologie 16 (2023), S. 11–28. ↩︎
- Amelang, Katrin: Wie Apps erforschen? Zum Zusammentreffen neuer Forschungsgegenstände und alter Methoden. In: Hamburger Journal für Kulturanthropologie 16 (2023), S. 11–28. ↩︎
- Desouza, Kevin C. / Bhagwatwar, Akshay: Citizen Apps to Solve Complex Urban Problems. In: Journal of Urban Technology 19/3 (2012), S. 107–136. ↩︎
- Goodman, Jane E.: Heetchin’ a Ride: Getting around on the Ride Apps in Oran, Algeria. In: Anthropology Today 41/1 (2025), S. 7–10. ↩︎
- Broeker, Fabian / Spector, Branwen: Introduction: Dating Apps beyond Dating. In: Ethnoscripts 26/1 (2024), S. 4–18. ↩︎
- Amelang, Katrin: Wie Apps erforschen? Zum Zusammentreffen neuer Forschungsgegenstände und alter Methoden. In: Hamburger Journal für Kulturanthropologie 16 (2023), S. 11–28. ↩︎
OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Ingo Rohrer (8. Mai 2025). Digitale Vigilanz: Wie die CitizenApp Sicherheitsgefühl und Aufmerksamkeit verändert. Vigilanzkulturen. Abgerufen am 20. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/13w41
Interessant ist auch die schiere Menge an Kriminalität: Klingt jetzt blöd, aber hier in Deutschland auf dem Dorf würde diese App höchstwahrscheinlich im 1,5 Meilen Radius nie etwas anzeigen.